Nach der Häutung.Dieter Nuhr debütierte Mitte der neunziger Jahre als Solokabarettist.
Bei dem einen passiert es über Nacht. Einige bekommen das erste Kind. Andere heiraten. Unter Umständen ist es auch der Berufsabschluß. Oder nur der Blick aus dem Fenster. Die Welt sieht plötzlich anders aus, ganz anders. Meistens bemerkt man es erst einige Zeit später. Eine unsichtbare Grenze ist überschritten. Die Jugend ist vorbei, weggewischt. Man ist und anfangs glaubt man es kaum – erwachsen.
Dieter Nuhr wird 1960 in Wesel am Rhein geboren, was nicht weiter von Belang ist, denn 4 Jahre später zieht die Familie nach Düsseldorf. Dort wächst er auf, die Schule beendet er 1979. 1989 Abschluß des Studiums der Kunst und der Geschichte. Nach dem Studium sammelt er erste professionelle Bühnenerfahrung mit dem V.E.V. Kabarett, mittlerweile gehört er seit Jahrzehnten zu den erfolgreichsten und profiliertesten Kleinkünstlern im Lande. Das vorliegende Programm „Nu(h)r am Nörgeln“ hatte 1993 Premiere und markiert seinen Durchbruch als bundesweit erfolgreicher Solokabarettist. Die mir vorliegende CD enthält einen Auftritt im Düsseldorfer Kom(m)ödchen vom 23. Juni 1995. Heimspiel.
Nuhrs Bühnenauftritt ist damals schon der bekannt minimalistische. Weder schlüpft er in unterschiedliche Rollen, noch gibt es aufwendige Toncollagen. Er spielt kein Instrument, auch seine Stimme ist nicht besonders variabel. Nuhr erzählt Anekdoten aus seinem Leben. Dabei reicht sein Spektrum vom übelsten Kalauer bis zur gesellschaftspolitischen Reflexion. Ein Mann und sein Unterhaltungsauftrag, das Theater, das Publikum. Den bundesweit präsenten Kabarettisten Nuhr gab es vor diesem Programm noch nicht. Daher wird am Anfang zunächst die Kunstfigur Dieter Nuhr – heute notorisch gelassen, damals notorischer Nörgler - etabliert.
Das Programm ist eine biographische Bestandsaufnahme. Nuhr findet sich, gelöst von den Idealen seiner grün-alternativen Jugend, als erwachsener Mensch wieder und wirft einen kritischen Blick auf sich selbst und seine Umgebung. Was ist übrig geblieben von seinen damaligen Idealen, was konnte er, was konnte seine Generation umsetzen? Und wie verhält sich dies alles zu den großen Lebens- und Menschheitsfragen? Viel Stoff. Mit 34 hat sich die eigene Welt verändert. Die Selbsterkenntnis setzt nun eher bei trivialen Dingen ein, die anekdotisch aufbereitet werden. Wenn man zum Beispiel wegen einer zu lauten Party des gesunden Nachtschlafes beraubt, die Polizei ruft und sich eingestehen muß, daß man keine Courage hatte, die Nachbarn um Ruhe zu bitten, dann ist das, genau: peinlich, spießig. Die eigene Identität gerät ins Wanken, die Lebenswelt der eigenen Jugend gerinnt zu Biographie, gerät zur Geschichte einer Generation. Irgendwie passen die eigenen Maßstäbe nun so gar nicht mehr zur als sperrig erlebten Wirklichkeit. Zeit, auf alles einen neuen geschärften Blick zu werfen – auf die Maßstäbe, auf die Wirklichkeit. Alles verändert. Die damals zwischen einem fatalistischem Glauben an eine weltliche Apokalypse und dogmatischer Weltverbesserung changierende Jugend sieht sich nun, als junge Erwachsene, einer Gegenwart gegenüber, die sich im Spannungsfeld eines oberflächlichen Weltanschauungseklektizismus und einem immer deutlicher durch das Gestrüpp deutscher Lebenswirklichkeit walkenden Wirtschaftsliberalismus (und seinen Folgen) abspielt. In einer der ernsteren Nummern bilanziert Nuhr ebenso nüchtern wie selbstironisch: „Heute stehen die jungen Menschen vor dem Wandschrank und sagen, trag ich mal sechziger, trag ich mal siebziger Jahre…? Bei uns war die Kleidung noch eine Weltanschauung! Aber die machen das mit den Weltanschauungen ja genauso! (…) Das macht alles so unüberschaubar, so unübersichtlich. Die Welt ist ein Ameisenhaufen geworden, ein chaotisches System, so komplex, daß es niemand mehr steuern kann. Keine Macht für Niemand. So hatten wir uns das auch nicht vorgestellt, als wir jung waren. Keine Macht für Niemand. Der Staat hat sich privatisiert und sich dadurch selbst entmachtet. Der Liberalismus hat sich endgültig durchgesetzt und dadurch seinen eigenen Mythos zerstört. Die große Freiheit ist eben doch nicht mehr als das Recht des Stärkeren.“
Ein Spaßmacher mit Substanz und einer eigenen Meinung also, der da mit uns spricht und ein Dickkopf noch dazu, der sich von Produkten wirtschaftsliberaler Produktionswut und seinen nervtötend inszenierten Trends umstellt sieht und dementsprechend gereizt darauf reagiert. „Haben Sie eigentlich schon ein Wok? Ich habe kein Wok. (Pause) ICH WILL AUCH KEIN WOK! (…) Ich habe allein schon sechs heiße Steine.“ Spätestens jetzt folgt das Publikum atemlos und enthusiastisch seiner Schilderung eines nervtötenden Alltags, der auch Zuschauer anzusprechen weiß, die am gedanklichen Überbau des Programms vielleicht weniger interessiert sind. Nun, der ständig nörgelnde Mensch kommt nicht umhin, sich irgendwann den großen Menschheitsfragen zu stellen. Wie ein gutes Gitarrensolo einen Song noch einmal auf den Punkt bringt, komprimiert Nuhr am Ende sein Programm noch einmal auf seine zentralen Themen. Idiosynkratische Reaktion auf einen Markt, der mittlerweile alle Bereiche des Lebens ergriffen hat, die Suche nach moralischen Normen in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, die Beschränktheit des eigenen Horizonts auf den Alltag, die Begeisterung dafür, die Welt verstehen zu wollen.
Man kommt nicht umhin: Mit "Nu(h)r am Nörgeln“ hat es Dieter Nuhr damals zurecht in die erste Riege deutscher Spaßmacher geschafft, ein damals veritabler Bühnenkünstler, klug, souverän und witzig, den ich irgendwo zwischen Kabarett und gehobenem Entertainment ansiedeln würde. Seine Komik entspringt aus dem Zusammenprall der nun als naiv erlebten Ideale seiner Jugend und der sperrigen Realität, die sich einfach nicht ändern will. Aus dieser Konfrontation strickt Nuhr seine Nummern, die mal witzige Alltagsbeobachtung, mal philosophische Reflexion sind, aber immer die Unterhaltung des Publikums zum Ziel haben. Und der Bühnenkünstler war im Gegensatz zu seiner Kunstfigur schon damals erwachsen, störrisch genug, sich nicht beim Publikum anzubiedern und seine Substanz zu verleugnen, realistisch genug, um zu wissen, dass er seiner Zielgruppe gefallen sollte. Das ist in einem gesunden Umfeld nach wie vor oft überzeugend.
Und daran scheint sich bis heute gar nicht soviel geändert zu haben. Nuhr scheint etwas konservativer geworden, sein Witz, aber das ist mein persönliches Erleben, dem Zeitgeist gegenüber nicht mehr besonders widerständig zu sein. Wobei ich zugeben muss, aktuelle Sendungen nur punktuell zur Kenntnis genommen zu haben. Dennoch eckt Nuhr mit einzelnen Pointen heutzutage häufiger an, zuletzt mit einem Witz über Ricarda Lang. Die Vorsitzende der Grünen hatte ein Werbeverbot für zuckerhaltige Snacks zu Tageszeiten gefordert, in denen Kinder bevorzugt Medien nutzen. "Dass sich Ricarda Lang überhaupt traut, das Volk in Ernährungsfragen erzieherisch lenken zu wollen, das macht mir persönlich Angst, weil die Politik wird für uns Komiker immer mehr zur echten Konkurrenz", kommentierte Nuhr in seiner Fernsehsendung. Ein Gag, der so hohe Wellen schlug, dass Nuhr in die Talkshow von Sandra Maischberger eingeladen und unter anderem zu den Gründen seiner missmutigen Haltung zu den Grünen befragt wurde. "Diese Verbotskultur [...]", gab der Kabarettist zu Protokoll,"sie wissen eigentlich immer genau, was die Gesellschaft zu tun hat und wollen es wie strenge Eltern von früher dem Staatsbürger beibringen [...]"
Bereits in den achtziger Jahren, fällt mir dazu ein, war sattsam bekannt, dass Rauchen Krebs verursache. Die Tabakindustrie reagierte in ihren Werbespots darauf mit einer Verschiebung der Aufmerksamkeit. Neben dem gesundheitlichen Schaden, den das Rauchen zweifellos anrichtet, ist es auch Teil der Alltagskultur. Das Zigarettchen nach einem gemeinsamen Essen mit den Freunden, der Griff nach dem Feuerzeug, das archaische Entzünden des Glimmstengels, die inwendige Wärme nach dem ersten Zug... In einer Werbung selektiv diese positiven Aspekte hervorzuheben, ist nicht falsch. Ausgeblendet wurden dabei aber die Suchtgefahr mit ihren gesundheitlichen Folgen, Noch 2015 starben laut Ärzteblatt 121000 Menschen an den Folgen des Tabakkonsums.Kann man angesichts dessen nicht eher von einer erzieherischen Lenkung des Konsumenten durch die Industrie sprechen? Die Politik reagierte: 2021 wurde die öffentliche Werbung für Tabak weiter beschränkt. Dabei scheint es mir keine entscheidende Rolle zu spielen, ob die Beschränkungen in der Tabakwerbung von rauchenden oder nicht-rauchenden Politikern forciert und beschlossen wurde.
Auch der Zucker ist mittlerweile unter Verdacht geraten. Denn mittlerweile taucht er auch in Lebensmitteln auf, in denen man ihn nicht vermuten würde. Noch schlimmer sei die Bewerbung fettarmer Lebensmittel als "gesund", die aber ein gehörigen Anteil ganz und gar nicht gesunden Zucker enthalten. Je früher solche Lebensmittel unaufgeklärt konsumiert würden desto schwieriger würde es für den erwachsenen Menschen, mit weniger Zucker auszukommen, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit von chronischen Folgekrankheiten, die nicht zuletzt auch das Gesundheitssystem schwer belasten. Kurzum: Auch die Ernährungsindustrie scheint Zucker in unlauterer Weise zur Profitmaximierung einzusetzen. Die Zeche zahle der oft unaufgeklärte Konsument. Die Kosten trage die Allgemeinheit, so die Argumentation.
Ist ein Werbeverbot nebst einer höheren Aufklärung über Lebensmittel aus dieser Perspektive nicht sogar ein Schritt hin zu einer freien Entscheidung? Würde die Bevormundung nicht erst dann beginnen, wenn das rauchen oder der Konsum von Zucker verboten werden würden? Ist es nicht belanglos, ob ein rauchender Politiker eine Einschränkung der Tabakwerbung, eine übergewichtige Politikerin eine moderate Einschränkung kommerzieller Kommunikation über Zucker fordert? Ich jedenfalls empfinde den Widerspruch nicht, den Nuhr in seiner Pointe inszeniert. Hier will kein vollgefressener Löwe die anderen Löwen zum Vegetarismus bekehren sondern die Bewerbung schädlichen Fleisches einschränken. Das wäre meine Interpretation.
Inhaltlich bin ich deswegen, Stand jetzt, nicht bei Nuhr. Aber: Könnte man seine Sottise als Witz nicht auch gelassener zur Kenntnis nehmen, gehört doch die Thematisierung von Körperfülle seit jeher zum Arsenal der Instrumente, die Menschen zum Lachen bringen sollen? Könnte man. Aber: Die Öffentlichkeit ist inhomogenener geworden, reizbarer, aufgeregter geworden als vor drei Jahrzehnten.
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