Das Imperium steckt zurück. Peter Sloterdijk gewinnt in einem Essay von 1994 Überblick über die europäische Befindlichkeit.
„Wir brauchen Europa. Wir leben in Frieden mit allen unseren Nachbarn. Gemeinsam mit unseren Partnern gestalten wir die Globalisierung nach unseren Vorstellungen. Deutschland braucht die Europäische Union, um seinen Wohlstand zu erhalten, um den Klimaschutz zu verbessern und um innere Sicherheit zu gewährleisten.“ Die Anzeige ist mittlerweile etwas vergilbt und die Lage mehr als verändert. Ich hatte sie vor etwa 15 Jahren in grössten Zeitung meiner Heimatstadt gesehen.Damals roch mir der Anzeigentext zu sehr nach Werbeagentur.Deswegen schaute ich mich nach einer arbeitnehmerfreundlichen Alternative um und stieß ich auf den gerade 60 starken Seiten Essay des Philosophen Peter Sloterdijk aus dem Jahre 1994 mit dem aufrüttelnden Titel „Falls Europa erwacht“, in dem versucht wird zu klären, was Europa ist und wo es gegenwärtig – gemeint ist 1994 - steht.
Sloterdijk schafft es in diesem Essay große Zusammenhänge und Zeiträume kompetent zu vereinfachen. Das ist viel wert. Denn die Frage wo Europa steht und wie es mit ihm weitergeht, wird uns alle in den nächsten Jahren begleiten. Nach Lage der Dinge wird es schon bei den Wahlen am 23. Februar hilfreich sein beurteilen zu können, ob die Vorschläge der Parteien genügend Hebelwirkung haben, ob sie angemessen genug auf die geopolitische Situation reagieren. Mein Text versteht sich als Beitrag, um eine erste grundlegende Perspektive zu entwickeln. Dabei hat er mir jedenfalls geholfen.
Sloterdijk knüpft an die gerade vier Jahre währende Wiedervereinigung der ehemals beiden deutschen Staaten an und versucht sie in den großen europäischen und historischen Kontext einzuordnen, die Geschichte Europas psychophilosophisch zu reflektieren und am Ende Forderungen an die politische Philosophie zu formulieren.
Gegenwärtig ist Europa ein depressiver Kontinent, so lautet in meinen Worten Sloterdijks Befund über die letzte historische Dekade, der anhand der in den letzten 50 Jahren vorherrschenden philosophischen Richtungen skizzenhaft erläutert wird. Nach dem Desaster der beiden Weltkriege hat es den „Dezentrierungsschock“ erlitten, der zunächst nicht bewältigt werden kann, es fühlt die „Demütigung durch seine Befreier“. Das Ende des zweiten Weltkriegs brachte das Ende der europäischen Weltvorherrschaft. Ab jetzt steckten die Europäer einen Kalten Krieg lang in der Zange zwischen der kommunistischen UdSSR und den USA. Als direkte Konsequenz wird sich Europa seiner eigenen jahrhundertelangen chauvinistischen Weltaneignung bewußt, es ist frei und (dennoch) traumatisiert.
Eine eigentümliche Konstellation, die in Sartres Formel „Condamné à la liberté“ – „Verdammt zur Freiheit“ ihren existentialistischen Ausdruck findet. Sloterdijk findet beeindruckende Worte um einen Zustand nachzuzeichnen, in dem die Philosophie nur noch Bilder eines weltverlorenen Menschen entwerfen konnte: „Absurd ist ein Dasein, das sich ohne inspirierende Mission und objektive Aufgabe in eine riesige und abstoßende Welt gestellt sieht. (…) Die Davongekommenen spürten das Zufällige ihres Überlebens in allen Gesten; die gegebene Welt schien mehr denn je von Ausradierungen und Hohlräumen umgeben, gleichsam als Rest einer ungeheuren Subtraktion. Der jähe Ausfall von 40 Millionen Toten hatte die Atmosphäre in Schwingung versetzt, einen mystische Emission, die an den Lebenden zehrte wie eine grenzenlose Schuld.“
Wahrheitsverlust und Bodenlosigkeit sind also die Stichworte , die diese Periode zeitgenössischer Philosophiegeschichte prägen und diese Tiefenstruktur europäischer Befindlichkeit hat sich bis heute (1994) nicht geändert, aber sie realisiert sich weiterhin in Ersatzhandlungen, Ersatzhandlungen für große Aufgaben, deren Sinn während und in der europäischen Selbstzerstörung verloren gegangen ist: „Nicht Entscheidung, sondern Erlebnis heißt das Schlüsselwort dieses Jahrhundertendes. (…) Die große Chance von heute liegt darin, sich selbst zu verbrauchen, (…) haltlos sind wir geworden, weil die überall aufgelegten Optionen uns schwindeln machen. Welches Leben sollen wir probieren? Welchen Flug sollen wir buchen? (…) Die Welt ist eine Speisekarte, da heißt es bestellen und nicht verzweifeln. (…) Wir treiben auf einem Ozean der Appetite, Erlebnisbereitschaft hat die Welt entgrenzt. Zwar haben die letzten Konservativen, ob Stoiker, Katholiken oder Preußen, sich Reste eines unzeitgemäßen Glaubens an den Geist ernster Missionen und objektiver Aufgaben bewahrt; die Mehrheiten sind längst zur glaubenslosen Internationale der Endverbraucher konvertiert. (…) Nicht mehr zur Freiheit ist er [der Europäer] verdammt, sondern zur Frivolität.“ Und also:“ Durch die Metaphysik des Verbrauchs verdunstet der ernste Mensch.“
Über eine Landmasse wird hier also nicht verhandelt, aus der Sicht des Philosophen ist Europa vielmehr ein rein diskursives Produkt; Europa, das ist der europäische Geist. Die Frage nach dem europäischen Geist zu stellen macht die Dinge nicht einfacher. Denn bei der Fülle von gedanklichen Einflüssen, die sich in Europa versammeln, scheint es nun schier unmöglich, Europa auf ein (1) Gebilde zu komprimieren, Eckdaten für dieses Gebilde zu formulieren, zu bestimmen, was der eigentliche Gegenstand der Untersuchung ist, doch Sloterdijk findet einen Weg, indem er die Perspektive ändert und nicht mehr nach Kriterien und relevanten Traditionen sucht, sondern die Frage stellt, welche „Szenen die Europäer in ihren entscheidenden Momenten spielen“, „welches (…) ihre bewegenden Ideen oder aktivierenden Illusionen“ sind, kurz: ob es ein Theaterstück gibt, welches in Europa immer wieder aufgeführt wird. Ja, gibt es, lautet die wenig überraschende Antwort.
„Die Antworten hierauf liefert jedes anspruchsvollere Geschichtsbuch. Die quintessentielle europabildende Funktion besteht aus einem Mechanismus der Reichsübertragung. Europa setzt sich in Gang und hält sich in Bewegung in dem Maß, wie es ihm gelingt, das Reich, das vor ihm war, das römische, zu reklamieren, zu re-inszenieren und zu transformieren; Europa ist somit ein Theater für Imperium-Metamorphosen; die Leitidee seiner politischen Einbildungskraft ist eine Art Seelenwanderung des römischen Imperiums durch die maßgeblichen und geschichtsmächtigen europäischen Völker.“ Somit ist der Bogen geschlagen von den Habsburgern bis zu den europäischen Nationalstaaten. Sogar die Nationalsozialisten finden als in Sloterdijks historisch-theoretischem Abriß ihren Platz. Was diese so unterschiedlichen Machtgefüge verbindet ist ihr vermessener Anspruch, alleiniger Nachfolger des römischen Reichs zu sein, ihre Katastrophe ist die Konsequenz des chauvinistischen Wahns, die einzig gültige Weltmacht zu sein, ein Anspruch, der irgendwann in kriegerische Auseinandersetzungen gegeneinander kulminieren mußte.
Und unausgesprochen steht ein weiterer Großbegriff im Raum, der Globalisierungsbegriff, der nun nicht mehr als bloße signifikante Vermehrung ökonomischer Beziehungen zwischen den USA, den Tigerstaaten und Europa firmiert, sondern den riesenhaften Prozeß beschreibt, der sich seit der Entdeckung (in diesem Zusammenhang sollte man sagen: Eroberung) Amerikas durch Kolumbus abspielt, die Inbesitznahme, kartographische Erfassung und imperialistische Vernetzung aller Weltteile durch die „poströmischen“ Europäer. „Überall, wo der europäische Geist zur Vorherrschaft kommt, tritt ein Maximum an Bedürfnissen in Erscheinung, ein Maximum an Arbeit, ein Maximum an Kapital, ein Maximum an Ertrag, ein Maximum an Ambition, ein Maximum an Macht, ein Maximum an Eingriffen in die äußere Natur, ein Maximum an Beziehungen und Austausch.“ (Paul Valery, zitiert von Sloterdijk). Das also ist es, das europäische Prinzip und es „unterwirft wesensgemäß die Welt als ganze der Form des Experiments“.
Während Europa traumatisiert und außer Gefecht gesetzt war, lebte sein Prinzip der Selbstintensivierung während des Kalten Kriegs weiter, wurde fortgeführt als Krieg der Ideologien, der schließlich durch die Implosion des Kommunismus sein Ende fand. Der „american way of life“ hat sich zunächst durchgesetzt. Und die europäische Union? Die europäische Union war in diesem Sinne ein erfolgreicher, gleichwohl der eigenen Benommenheit geschuldeter Versuch nach den beiden Weltkriegen ein friedliches Europa zu kreieren. Jetzt aber, nach dem Ende des Kalten Kriegs, wird es sich aus seinem Schockzustand befreien und sich seinem in jahrhundertelanger Geschichte entstandenen dramaturgischem Prinzip stellen müssen. „…es kommt den Europäern weder heute noch morgen zu, zum soundsovielten Mal die Römer zu spielen. An einem `supranationalen Leviathan´ namens Europäische Union kann kein einsichtiger Zeitgenosse im Ernst ein Interesse haben. (…) Europa wird ein Seminar sein, wo Menschen lernen, über das Imperium hinaus zu denken.“- Dennoch wird sich die europäische Union von denen im Zeitalter der Absence entstandenen Strukturen lösen müssen, wenn es ein ausgewachsener politischer Akteur auf der Weltbühne werden möchte. Und größer ist der europäische Staatenbund in den letzten Jahren ja geworden. Es hängt jetzt von der Entwicklung der Selbstdefinition der Europäer ab, wie es mit Europa weiter geht.Soweit Sloterdijk.
„Ein Philosoph, den ich nicht verstehe, ist ein Schuft!“, schrieb Andre Breton, der Begründer des Surrealismus, irgendwo mal und ich kann seine zwischen versteckter Bewunderung und offener Aggression changierende Haltung gegenüber den oft verstiegen schreibenden Philosophen gut nachvollziehen. Auch hier möchte ich eine Einordnung oder eine Kritik berufeneren Leuten überlassen. Aber: Sloterdijks historisch-visionärer Wurf macht Lust darauf mehr zu erfahren, während die anfänglich zitierte Anzeige mich eher mißtrauisch werden ließ: „Die Europäische Union macht das Leben preiswerter: Sie können günstiger telefonieren und billiger in den Urlaub fliegen.“ Wer will denn da schon wieder an meine Brieftasche? Abgesehen davon habe ich manchmal etwas Mühe, Breton zu verstehen.
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