Lechts und Dings. Blake Edwards treibt in „Victor/Victoria“ schöne Spielchen mit Geschlechterklischees.
Paris, 1934. Victoria (Julie Andrews) ist ausgebildete Sängerin und hat nur eins in Hülle und Fülle, nämlich jede Menge Sorgen. Sie hat keinen Job, infolgedessen kein Geld. Gerade noch kann sie ihren Vermieter abschütteln, der ihr die Miete für körperliche Dienste „erlassen“ will . Und sie hat seit 4 Tagen nichts mehr in den Magen bekommen. Die Verzweiflung gewinnt Überhand. Sie geht in ein Restaurant und bestellt die Karte hoch und runter.
Caroll Todd, genannt Toddy (Robert Preston), ist Sänger und Conférencier in irgendeiner schwulen Lokalität. Dummerweise kommt sein Freund – mehr ein Arrangement als eine Beziehung – mit ein paar unfeinen Bekannten in das Lokal. Toddy kann nicht an sich halten und beginnt die ungebetenen Gäste in einer seiner Conferéncen zu provozieren. Seine spitze Zunge löst eine Massenschlägerei aus. Die Szene endet im Tumult. Toddy wird entlassen.
Zufällig geht er in das Restaurant, in dem Victoria speist. Da er sie schon singen gehört hat, spricht er sie an. Man lernt sich kennen. Man findet sich sympathisch. Sie lädt ihn großzügig zum Essen ein. Victoria hat eine Kakerlake mit ins Restaurant gebracht, die sie im passenden Moment auf ihren Salat plaziert, um nicht bezahlen zu müssen. Der Geschäftsführer entschuldigt sich höflich – und verlangt die Begleichung der Rechnung. Glücklicherweise klettert das Tierchen einer dicken Dame am Bein hoch. Die Szene endet im Tumult. Toddy und Victoria können fliehen.
Sie landen in Toddys Wohnung. Dort passiert – nichts, denn Toddy ist ja schwul. Weil Victorias Kleid im Regen eingelaufen ist, zieht sie sich am nächsten Morgen einen Anzug von Toddys Freund an. Der hat „die miese alte Schwuchtel satt“ und möchte gerade an diesem Morgen seine Sachen abholen und Toddy verlassen. Nicht mal geliehenes Geld möchte er zurückgeben. Victoria schmeißt ihn hinaus, mit einem Fußtritt von chaplinschen Gnaden. Toddy hat eine Idee.
Was, wenn Victoria, ein zweitklassiger weiblicher Sopran, als Mann auftreten würde? Toddy erweist sich als Kenner der Künstlerszene und der menschlichen Psyche. Flugs bindet er Victoria die Brüste ab und inszeniert sie als Graf Grazinski, das schwarze Schaf einer polnischen Aristokratenfamilie, schwul, verstoßen und daher jetzt Damendarsteller. André Cassell – bekanntester Agent in Frankreich – glaubt Toddy den Schwindel und protegiert Victoria.
Und nun ist sie Victor. Nach ein paar Wochen Training tritt sie vor den Augen von King Marchand (James Garner), dem größten Nachtclubbesitzer von Chicago, auf und reißt das Publikum in einem aufwendigen Dekor mit ihrer weiblichen Stimme und einer rasanten Tanznummer förmlich aus den Sitzen. Marchand verliebt sich auf der Stelle. Bis sie sich als Mann zu erkennen gibt. Das Publikum ist ob der Sensation begeistert, Marchand entgeistert, seine Freundin Norma (Lesley Ann Warren), ihn beobachtend, erst beunruhigt, dann beleidigt, nach der „Demaskierung“ erleichtert und schließlich auch begeistert, wenn auch aus ganz anderen Gründen.
So. Nun ist die Verwirrung endlich perfekt. Victoria ist eine Frau, die vorgibt ein Mann zu sein, der vorgibt eine Frau zu sein und in den ausgesprochen heterosexuellen Marchand verliebt ist. Marchand wiederum ist ein Mann, der aus geschäftlichen Gründen ein Gangsterimage pflegt und sich zu einem Mann hingezogen fühlt, gleichzeitig aber nicht umhin kann, diesen Mann für eine Frau zu halten. Und Norma, wunderbar dumm, wunderbar albern, wunderbar zickig, sieht ihre Position als Gangsterbraut gefährdet, weil sie glaubt, Marchand sei in einen schwulen polnischen Damendarsteller verliebt. Nur Toddy läuft in dieser Szenerie zur Hochform auf. Beim Spiel mit den Identitäten ist er in seinem Element. Damit nimmt eine Geschichte, die zunehmend von absurden Situationen geprägt wird, ihren Lauf.
1981 entstand der Film und zu dieser Zeit war dem Publikum die Kontinuität einer Tradition immerhin noch präsent, die jede Abweichung von der heterosexuellen Norm, gar das ungeschminkte Sprechen über Sexualität, mehr oder weniger sanktionierte. Unter einer anderen Optik gefaßt, heißt das: an bestimmten Orten konnte durch eine laszive Anspielung aufgrund der um ein vielfaches stärkeren Schwerkraft von geschlechtlichen Stereotypen eine Wirkung erzielt werden, die heute sogar mit den bekannt rüden Mitteln verfehlt wird.
Um eine solche Konstellation aufbauen zu können, mußte Blake Edwards offensichtlich eine Menge (erfolgreicher) Vorarbeit leisten, denn sein Film schafft es mit tollen Kulissen, viel Liebe zum Detail und einem gehörigen Schuß Nostalgie ein Wertesystem aufzurufen, dass heute beinahe vergessen ist. Und kaum ist es aufgebaut, wird es für die Protagonisten, besonders Marchand und Norma, einen Film lang wieder ausgehebelt. Damit das allerdings geschieht, muß sich Edwards schon der Verschränkung von drei Verwirrungsebenen bedienen.
Erstens gaukelt das Showbusiness – hier das Pariser Cabaret der dreißiger Jahre – seinen Zuschauern bekanntlich Dinge vor, die so nicht stattfinden: es lebt also von der Undurchschaubarkeit seiner Protagonisten, die bewußt eine Intimität zum Publikum herstellen, um es dann aufs Kreuz zu legen; in der Regel aus Unterhaltungsgründen. Zweitens ist die Geschichte in einem Milieu situiert, in dem Hetero- und Homosexuelle gleichermaßen unterwegs sind. Nur dürfen letztere ihre Sexualität aus politischen Gründen nicht offenlegen. Zu Beginn des Films singt Toddy ein Lied, in dem beständig mit der Doppelbedeutung des Wortes „gay“ (fröhlich, aber eben auch schwul) gespielt wird. Der Unterhaltungswert des Liedchens besteht ausschließlich in der augenzwinkernden Übereinkunft zwischen Sänger und den Zuschauern, die natürlich genau wissen, worauf hier angespielt wird und einen Moment lang ihren Sieg über die gesellschaftliche Unterdrückung genießen können. Wer jedoch nicht dazu gehört, wird schnell falsch oder gar nicht verstehen. Die Verwandlung, drittens, der heterosexuellen Victoria in den schwulen Victor – eigentlich nur für eine Bühnenshow gedacht – zieht die Schraube an bis zur totalen Verwirrung. Jetzt ist nichts mehr, wie es scheint. Die geschlechtlichen Koordinatensysteme passen nicht mehr. Alle Erwartungen laufen ins Leere.
Aus dieser Situation strickt Edwards ein ums andere Mal komische Situationen und pointierte Dialoge. Als Beispiel eine Unterhaltung zwischen Norma und Toddy, nach „Victors“ erstem Auftritt.
- Norma (überrascht): Oh, sie sind wirklich homosexuell?
- Toddy: (amüsiert): Wissen sie, wir bevorzugen den Ausdruck schwul!
- Norma (flirtend): So eine Verschwendung! Wissen Sie was, ich glaube? Die richtige Frau könnte sie bekehren.“
- Toddy (schlagfertig): Oh, ich glaube, die richtige Frau könnte auch sie bekehren!
- Norma (lachend, abwehrend): Ich, die Männer aufgeben? Wo denken sie hin?
- Toddy (ebenfalls lachend, bestätigend) Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund!
„Victor/Victoria“ bedient sich über weite Strecken reichlich aus der Kiste des Klamauks und des Slapsticks und Blake Edwards zeigt sich seinen Vorbildern aus der Vaudeville- und Stummfilmtradition mit der Verschiebung der klassischen Verwechselungskomödie in das Spiel mit Geschlechteridentitäten mehr als gewachsen. Und wenn das Thema auch heute, wo „Sexualität“ aus allen Kanälen trompetet, etwas an Zündstoff verloren hat: Liebhabern von Chaplin, Laurel & Hardy oder Jaques Tati - wenn es die noch gibt - wird „Victor/Victoria“ gefallen.
Wie also soll man resümieren? Mit den gut gebauten und eingerichteten Kulissen? Der feinen Regie? Den pfiffigen Dialogen? Den gelungenen Musicaleinlagen? Den vielseitig begabten und überzeugend agierenden Mimen? Der tollen Ensembleleistung? Der eindrücklich begleitenden Musik von Mancini? Der ansteckenden Atmosphäre? Ich bemühe einfach das Klischee: „Victor/Victoria“ ist eine wundervolle, zeitlose Komödie. Für Boomer. Is klar, ne?
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