Resistance is not futile? Stéphane Hessels Bestseller "Empört Euch" gehört bereits einer vergangenen Dekade an
„Neues schaffen heißt Widerstand leisten, Widerstand leisten heißt neues schaffen.“ (S.21) Das ist sie schon, die Hauptthese des schmalen Bändchens „Empört Euch“, das nach seinem Erscheinen 2010 monatelang weit vorne in den Bestsellerlisten rangierte. Zu diesem Zeitpunkt war sein Autor Stéphane Hessel bereits 93 Jahre alt. Im Nachwort gibt die französische Verlegerin über ihn einige biographische Auskünfte. Denn einerseits war Hessel bis dahin öffentlich unbekannt und andererseits - vermute ich jedenfalls - geht es darum, den gerade mal 14 Seiten umfassenden Text mit dem Gewicht einer „richtigen“ Biographie mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Von Männern, deren Leben sich langsam rundet, bin ich eher den Befund gewöhnt, dass alles ins Elend gehe. Hier kommt ein Optimist zu Wort.
Hessel wurde als Sohn des deutschen Schriftstellers Franz Hessel 1917 in Berlin geboren. Der Vater, Jude, hatte bereits einige Zeit in Paris gelebt. Die Familie emigrierte 1924 aus dem zunehmend bedrohlicher werdenden Deutschland dorthin. Seit 1937 war Hessel französischer Staatsbürger und schon früh leistete er im französischen Geheimdienst Widerstand gegen die Besetzung durch die Deutschen. Auf einer Spionagemission wurde er festgenommen, gefoltert, zum Tode verurteilt und nach Buchenwald deportiert. Von dort konnte er entkommen, überlebte unter abenteuerlichen Umständen und mit viel Glück den Krieg. Danach hatte Hessel als erfolgreicher Diplomat gearbeitet, war lange bei den Vereinten Nationen und dort Zeuge der Formulierung der Allgemeinen Menschenrechte. Später führte ihn seine Laufbahn nach Algerien und Vietnam. Hessel hat also viel erlebt, war viele Jahre seines Lebens nah am Puls der Zeit.
„Nicht nur war mir die deutsche Gegebenheit mit Hitler sehr unlieb, sondern auch meine Sprache, meine Kultur, meine Schulung waren alle Französisch“, sagte Hessel im Januar 2013 in einem Interview mit dem Deutschlandradio. Zu uns spricht also – kurz vor seinem Lebensende - ein Franzose, dessen Leben vom Widerstand geprägt worden ist. Erst der Widerstand gegen die Nazis habe nach dem Krieg in Frankreich zur Formulierung eines demokratischen Programms geführt, argumentiert Hessel. Die Eckpunkte rafft er im ersten Kapitel: die Verstaatlichung der Energieversorgung und der Banken; eine freie Presse; die bestmögliche Erziehung der Kinder; eine gesicherte Existenzgrundlage für alle Bürger; ein Ruhestand, der jedem ein Altern in Würde gestattet, kurz: „Das Gemeinwohl sollte über dem Interesse des Einzelnen stehen, die gerechte Verteilung des in der Arbeitswelt geschaffenen Wohlstands über der Macht des Geldes.“ (S.8)
Die Erosion dieser sozialen Errungenschaften erleben wir heute alle mit. Mit der Analyse der Ursachen bewegt sich Hessel durchaus im kritischen Mainstream. Es ist fünf vor zwölf: „Das im Westen herrschende materialistische Maximierungsdenken hat die Welt in eine Krise gestürzt, aus der wir uns befreien müssen. Wir müssen radikal mit dem Rauschdes `Immer noch mehr' brechen, in dem die Finanzwelt, aber auch Wissenschaft und Technik die Flucht nach vorne angetreten haben. Es ist höchste Zeit, dass Ethik,Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht unser Anliegen werden. Denn uns drohen schwerste Gefahren, die dem Abenteuer Mensch auf einem für uns unbewohnbar werdenden Planeten ein Ende setzen könnten.“ (S.19/20)
Hessel erweist sich unter der Oberfläche des Resistanceveteranen als waschechter Linker, dem es zu seiner Zeit auch um den Kampf gegen eine Oberschicht ging, die die Verhältnisse geschickt zu ihren Gunsten auszunutzen wusste. Heute dagegen ist nicht recht klar, gegen wen sich der Protest richten soll. Es ist schwieriger, Ross und Reiter zu benennen. Das Fehlen klarer persönlicher Feindbilder bringt Hessel schön auf den Punkt: „Wer befiehlt, wer, entscheidet? (…) Wir haben es nicht nur mit einer kleinen Oberschicht zu tun, deren Tun und Treiben wir ohne weiteres verstehen. Die Welt ist groß, wir spüren die Interdependenzen, leben in Kreuz- und Querverbindungen wie noch nie.“ (S.13)
Jetzt endlich kommt die Empörung ins Spiel, die heilsam ist, den Einzelnen zum Engagement aktiviert und zum Teil des dringend notwendigen Widerstands macht. „Wenn man sich über etwas empört (...) dann wird man aktiv, stark und engagiert. Man verbindet sich mit dem Strom der Geschichte, und der große Strom der Geschichte nimmt seinen Lauf dank dem Engagement der Vielen – zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit (...)“. Andererseits beseitigt sie die Gleichgültigkeit und ist die Bedingung für den nötigen Durchblick. Nur wer engagiert ist, wird nach den Ursachen der Ungerechtigkeit suchen – und sie finden.
Aber ist soviel Optimismus angesichts der Verwerfungen des 20. und noch jungen 21. Jahrhunderts nicht illusorisch? Auch Hessel hat offensichtlich die Notwendigkeit gesehen, seinen Optimismus zu begründen - angesichts der dunklen Zeiten, in denen er lebte, während er sozialisiert wurde. Als ausgebildeter Philosoph beruft er sich auf Sartres Lehre von der Verantwortung des Einzelnen für die Gesellschaft sowie auf Hegel: „Die Philosophie Hegels gibt der langen Menschheitsgeschichte einen Sinn: die Freiheit des Menschen schreitet stufenweise voran. Geschichte ist eine Abfolge von Erschütterungen – und damit von Herausforderungen. Die Geschichte der Gesellschaften schreitet voran, bis am Ende der Mensch seine vollständige Freiheit erlangt hat und damit der demokratische Staat in seiner idealen Form entstanden ist.“
Bleibt die notwendige ausführliche geschichtsphilosophische Fundierung des Fortschritts durch Widerstand aus, weil sie den Rahmen des Buches gesprengt hätte, so bleibt Hessel die Antwort ganz schuldig beim Versuch zu erklären, wie denn der Fortschritt durch Widerstand politisch umzusetzen ist. Es liegt ihm aber daran, weiterzugeben wie es nicht geht: mit Gewalt.
Seien wir ehrlich: „Empört Euch“ ist ein Zeitungsartikel in Buchform, der in Niveau, Inhalt und Umfang in jeder überregionalen Zeitung Platz fände – und nicht weiter auffiele. Mir aber hat das Buch trotz einiger möglicherweise nur für mich befremdlichen Reflexionswendungen (zum Beispiel Hessels Haltung zur Palästinafrage) gut gefallen. Denn:
- hier sagt ein aufgrund seines Alters unabhängiger Mann, ein kluger Kopf, ungeschminkt in einfachen Worten seine Meinung, ohne die Komplexität der Dinge zu verleugnen
- hier ist jemand aus seiner Erfahrung heraus in der Lage, glaubwürdig den historischen Bogen vom Kriegsende bis zu den Problemen der Gegenwart zu schlagen
Und: Patentrezepte für die großen Aufgaben - die weiter sich öffnende Schere zwischen arm und reich; die Durchsetzung der Menschrechte; die Lösung der ökologischen Frage sind natürlich nicht von allein zu erwarten. Da ist tatsächlich das eigene Engagement gefragt. Mittlerweile, knapp 13 Jahre nach seinem Erscheinen, scheint das Buch aber schon nicht mehr aktuell zu sein. Denn Hessels Text unterstellt unausgesprochen noch eine Welt unter westlicher Hegemonie,die aber zu verblassen scheint. Es ist bereits Konsens, dass wir uns auf dem Weg in eine multipolare Welt befinden. Aber an immerhin einem Punkt dürfen wir aufatmen: man kann auch unter schwierigen Umständen Optimist werden.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen